Publikation

Archiv-Nr.:
u239/020/257
Urheber:
Lilienthal, Otto
Objekt:
Vortrag
Titel:
Erfahrungen und Erfordernisse der Volkstheaterbewegung
Datum:
1896/03
Quelle:
"Ethische Kultur", IV. Jg., S.143
Status:
Hinweis
Beschreibung:

Vortrag in der "Gruppe für ethische Bildung" der "Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur", vermutlich im Lesesale der Gesellschaft, Ziegelstraße 10/11:

"Herr Ingenieur O. Lilienthal berichtete in sehr dankenswerter Weise über Erfahrungen und Ergebnisse der Volkstheaterbewegung. Was Schule und Kirche dem gemeinen Manne versagten, das müsse das Theater nachzuholen suchen, indem es ethische Bildung durch Kunstgenuß gewähre. Unter Berufung auf die Broschüre von Wilh. Meyer "Das 10 Pfennig Theater" legte der Redner dar, wie man die praktische Probe auf jene theoretische Forderung gemacht habe. Im Jahre 1892 sei das frühere Ostend-, jetzt Nationaltheater mit 1050 Sitzplätzen für den Zweck der Volkserziehung eingerichtet worden. Die Preise der Pätze wären 10-50 Pfennige gewesen. Bei wöchentlich 2-3 Vorstellungen habe man stets ein fast ausverkauftes Haus gehabt. Das Repertoir war das klassische. Sehr wohlthuend sei für den Beobachter die Haltung des Publikums gewesen, das große Genußfähigkeit mit ernstem Bildungsstreben verbinde. Die Medicin ethischer Bildung werde hier gleichsam in der angenehmen Schutzkapsel des Vergnügens genommen. Außer den Klassikern müßten auch moderne Tendenzstücke von sittlichem Gehalt gegeben werden. Die Erfahrung habe gelehrt, daß ein solches Theater sich selbst erhalten könne. Das Schillertheater ist, trotz der besten ähnlichen Bestrebungen, nicht für die große Menge, die sich auf Abonnement und Preise von 40 Pfennige bis 1 Mark nicht einlassen könne. Herr Julius Türk, Mitbegründer der "freien Volksbühne" beklagte, daß  der Redner die Vorgänger in der Volkstheaterbewegung nicht erwähnt habe. Schon 1890  sei die freie Volksbühne gegründet worden; aber die Grundsätze derselben seien doch andere. Nicht um billige Klassikervorstellungen handele es sich, die auch früher da waren, sondern darum, daß die Arbeiter ein Theater für sich, ohne Klassengegensätze ohne Platzunterschiede, mit eigenem Repertoir, unter eigener Leitung hätten. Er wendet sich entschieden gegen jeden Versuch, das Volk durch das Theater zu "ethifizieren." Nicht Erziehung, sondern ein edles Vergnügen suche dasselbe dort. Die Klassiker, ein Shakespeare, Schiller, Lessing, Goethe, seien durchaus tendenziöse Dramatiker gewesen, nur daß damals das Bürgertum, jetzt der vierte Stand nach Gleichberechtigung ringe. Auch dieser wolle seine Dichter auf der Bühne sehen. Nach der finanziellen Seite ist ein derartiges Theater mit 3000 Plätzen à 20-30 Pfennige bei großer Sparsamkeit lebensfähig, aber das Prinzip der Gleichheit aller Plätze, eines wesentlich modernen Repertoirs unter Heranziehung der Klassiker, soweit sie tendenziös seinen, und die volle Autonomie in der Leitung müsse aufrecht erhalten werden. Das Schillertheater entspreche trotz seiner Verdienste für den Mittelstand weder in seiner Geschäftsführung noch im Repertoir einer Volksbühne. Gegen die Behauptung, die Klassiker wären tendenziös, wandte sich Professor Bruno Meyer in längerer Ausführung. Die gewaltsame Gleichmacherei der Plätze sei im Theater so wenig, wie sonst angebracht. Eine Volksbühne sollte nicht nur für den Arbeiter, sondern für das ganze Volk da sein. Es sei ein Verbrechen an der Volksseele, sie bis in ihre Vergnügungen hinein mit Klassengegensätzen zu verfolgen. Harr Jaffé wies darauf hin, daß das Schillertheater doch sicher Tausenden, die bisher ohne Kunstgenuß waren, diesen gespendet hätte; dabei komme es doch nicht darauf an, ob dies kleine Handwerker, Kaufleute oder Arbeiter gewesen wären. Herr Lilienthal resümierte die Debatte dahin, daß alle Redner die Ausbreitung des Theatergenußes auf die weitesten Kreise wünschten. Das Prinzip völliger Unentgeltlichkeit sei von niemand behauptet worden. Daß man zunächst auf Klassiker zurückgreife, habe seinen guten äußerlichen Grund: die Befreiung von Tantiémezahlung. Der moralische Einfluß des Dramas werde, ob gewollt oder nicht, doch niemals völlig nichtig sein."

Digitalisat siehe id 17846