Objekt

Archiv-ID:
16474
Objekt:
Artikel
Urheber:
Hentschel, Andreas
Titel:
Im Gleitflug auf Otto Lilienthals Spuren
Datum:
2016/08/15
Ausführung:
dreispaltiger Artikel, mit einer Abb. (id15761)
Quelle:
Ostseezeitung, S. 25, auch Nordkurier - Neubrandenburger Zeitung
Status:
Druck/Orig.-Kopie
Beschreibung:

zum Leben des Flugpioniers Hans Richter.

im Museum befindet sich ein Lilienthal-Nachbau von Richter.

"

Im Gleitflug auf Otto Lilienthals Spuren

Berlin. Ein merkwürdiges Bild ging vor 100 Jahren um die Welt. Eine riesige, rechteckige Konstruktion schwebt über einem Hügel in der Luft. Der Bild-Text besagte: " Der Gleitflieger Hans Richter führte zum 20-jährigen Todestag Lilienthals von dem Todeshügel in den Rhinower Bergen seine Gleitflüge aus."

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Hans Richter als Jünger des 1896 verunglückten Luftfahrtpioniers Otto Lilienthal schon mehrfach ins Gespräch gebracht. Für manche Zeitgenossen galt er sogar als dessen Schüler, was aber nicht möglich war. Als Otto Lilienthal 1891 vom Spitzen Berg bei Derwitz im heutigen brandenburgischen Landkreis Potsdam-Mittelmark seine ersten Luftsprünge wagte, erblickte Hans Richter gerade erst das Licht der Welt.

In Berlin wurde er am 8. Juni 1891 als Sohn eines Ritterschafts-Kassenkontrolleurs geboren. Er wuchs in Swinemünde auf, wo er das Realgymnasium besuchte. In seiner Freizeit soll er schon als Schüler mit Fluggeräten nach der Art Lilienthals in den Dünen an der Ostsee seine ersten Schwebeflüge ausgeführt haben.

Zurück in der Reichshauptstadt erlernte er das Bankfach und wurde Angestellter der American-Express-Company. Nach eigenem Bekunden baute er nach 1910 eine Reihe von Gleitfliegern, mit denen er Schul- und Schauflüge durchführte. Das geschah in Berlin-Johannisthal, in Luckenwalde, Zossen, Frankfurt an der Oder, Wollin in Pommern sowie in den Rhinower Bergen bei Stölln. An der letztgenannten einstigen von Lilienthal seit 1893 genutzten Flugstätte war er bis 1924 alljährlich im Frühjahr und Herbst präsent. Und zumindest für den 10. August 1916 ist das durch das überlieferte Foto belegt.

An eben jenem Gollenberg bei Stölln nordwestlich von Berlin war der Anklamer Otto Lilienthal am 9. August 1896 aus 15 Meter Höhe abgestürzt. Einen Tag später erlag er 48-jährig seinen Verletzungen.

Als Feldflieger kam Richter nicht zum Einsatz

Doch zurück zu Hans Richter: Zwischenzeitlich hatte er sich 1914 als Kriegsfreiwilliger bei der Flieger-Ersatz-Abteilung in Berlin-Adlershof gemeldet. Nach eigener Aussage wurde er danach als Motorflieger geschult und lernte eine Rumpler-Taube fliegen. Seinen Einsatz als Feldflieger an der Westfront habe jedoch eine festgestellte " Dienstuntauglichkeit"  verhindert. Was seltsam erscheint, denn das Hantieren mit einem Gleitflieger erforderte Kraft und Geschicklichkeit. Das bezeugte Richter selbst in einem wegweisenden Aufsatz für die Wochenschrift " Sport im Bild"  im Juni 1916. Überschrieben war er mit " Gleitfliegen ein neuer Sport" .

Darin hieß es: " Die Frage, ob das Fliegen, wie es heute bereits in so hoher Vollendung von unseren Zivil- und Militärfliegern im Dienste des Vaterlandes ausgeübt wird, sich jemals zu einem richtigen Sport entwickeln werde, ist bis jetzt noch ungelöst. Gewisse Anfänge hat es zwar schon gegeben, aber sie haben noch keinerlei feste Anhaltspunkte dafür erbracht, dass sportliches Fliegen Verbreitung finden wird. Das Gleitfliegen dagegen scheint dazu berufen zu sein, als eine Art Vorbereitung für die eigentliche große Kunst des Fliegens zum Teil auch deren sportliche Mission zu erfüllen."

Sportliche und geschickte Piloten waren gefragt

In einem Überblick über die Gleitflugapparate erwähnt Richter auch die Konstruktion von Waldemar Geest (1879-1944). Der Mediziner aus Berlin hatte 1906 mit der Gleitfliegerei begonnen, um 1909 und 1910 am Gollenberg bei Stölln Lilienthal nachzueifern. Nach einer Bruchlandung entstand Geests Eigenkonstruktion " Weih" , mit der dann auch Richter vermutlich seine ersten Gleitflüge durchführte, während sich Geest ganz der Motorfliegerei zuwandte. Seinem Flugzeug " Möwe"  war jedoch kein Erfolg beschieden, worauf er fortan wieder als Arzt praktizierte. Nun trat Richter mit einem Gleitflieger in Erscheinung, der nach seiner Beschreibung bei zwölf Quadratmeter Gesamtoberfläche ein Gewicht von 35 Kilo und 7,70 Meter Breite hatte.

Richter führte in seinem Text aus: " Beim Erlernen des Gleitfluges ist große Vorsicht zu beachten. Doch gehört gerade zu diesen Flügen eine außerordentliche Gewandtheit, besonders dazu, dem aufsteigenden Apparat durch geeignetes Hineinschwingen des Körpers einen schnellen Vortrieb zu geben. Hat nun der Flieger seine Sicherheit bei diesen kurzen, immer sehr riskanten Flügen erwiesen, so kann er getrost Versuche von Berghängen unternehmen. Die Brücke, die zum Segelflug führt, ist der Gleitflug. Wer den Gleitflug beherrscht, wird auch das Geheimnis des Segelfluges erkennen."

Während einige seiner Flugschüler später als Segelflieger bekannt wurden, werkelte Richter nun an Flugmaschinen eigener Konstruktion. Deren Fertigstellung lag in den Händen der Berliner Firma Paul Tiburtius. Im August 1920 stürzte Richter mit seinem Gleiter bei Schauflügen zugunsten einer neuen Lilienthal-Gedenkstätte ab. Er erlitt Quetschungen und innere Verletzungen und legte zwangsweise eine Flugpause ein. Im Juni 1923 erwarb er dann von den Lilienthal-Erben die " Welt-Lizenz"  zum Nachbau der Fluggeräte von Otto Lilienthal.

Mit einem solchen Nachbau führte Richter im August 1924 einige Gleitflüge in den Rhinower Bergen durch. Dabei hatte er sich maskiert wie sein Vorbild und wurde gefilmt. Das Ergebnis flimmerte dann als " Otto Lilienthal, der Altmeister der Flugkunst"  einige Zeit über die Leinwände. Der dabei verwendete Nachbau eines " Original-Otto-Lilienthal-Gleitfliegers"  ging 1925 in den Besitz des Magistrats von Anklam über, gedacht als erstes Schaustück für ein Museum.

Vom Wasser aus funktionierte es auch

Im 1927 gedruckten Jahrbuch " Das neue Universum"  war dann von Hans Richter als " ältestem Gleitflieger nach Otto Lilienthal"  die Rede. Er habe im Oktober 1926 neue Versuche mit einem Segelflugzeug auf dem Tempelhofer Flughafen in Berlin unternommen, das er von einem Motorrad anziehen ließ. Dabei sei ein Flug in etwa 20 Meter Höhe und von 300 Meter Länge erreicht worden.

Zudem sei ihm die Entwicklung eines Wassersegelflugzeugs gelungen, das ohne Schwierigkeit in kleinen Räumen untergebracht werden könne. " Der Abflug vom Wasser geschieht mithilfe eines starken Motorbootes, das das Flugzeug gegen den Wind zieht, wobei es sich leicht vom Wasser abhebt" , heißt es.  Die Autoren des Jahrbuches waren sich sicher: " So wird sich auch hieraus ein neuer Sport entwickeln, dessen Möglichkeiten noch nicht zu übersehen sind. Das abgebildete Flugzeug kostet etwa 400 Mark, es ist also bald für jeden Sportsmann erschwinglich."  Allerdings scheint nicht einmal Richter mit seiner Konstruktion in die Lüfte gegangen zu sein.

1930 gründete sich dann in Frankfurt am Main der " Segelfliegerring im Deutschen Modell- und Segelflugverband e. V." . Mitglied konnte jeder Deutsche werden, " der in der Gleit- und Segelflugbewegung tätig ist oder den Gleit- und Segelflug in irgendeiner Weise fördern will" , hieß es. Der Vereinsvorstand beschäftigte sich sogleich mit der " Angelegenheit Hans Richter, Berlin" . Danach hieß es: " Nach eingehender Aussprache wurde der Vorstand beauftragt, die geeigneten Schritte zur Disqualifikation Richters zu unternehmen."  Die Hintergründe dieses Vorganges bleiben bis heute nebulös.

Das war wohl das Ende von Richters Tätigkeit im Flugwesen. Später ist er als Varietékünstler mit seiner Frau durchs Land gezogen. Mehrfach hatte er Kontakte zum Deutschen Museum in München. Man einigte sich auf den Ankauf eines weiteren Nachbaus eines Lilienthal-Gleiters, des Films, in dem er als " Altmeister der Flugkunst"  agierte und man war im Gespräch über eine Materialsammlung zu seinem Leben. Da man aber nicht zusagte, sie der Vorstellung Richters entsprechend zu repräsentieren, zog er das Angebot zurück.

Das Museum erhielt von ihm lediglich ein Exemplar der " Berliner illustrierten Nachtausgabe"  vom 6. Juni 1941. Darin steht ein längerer Artikel mit der Überschrift: " Auf den Spuren Otto Lilienthals. Gleitflugpionier und Zauberer zugleich. Der Berliner Hans Richter erzählt -  Ein fünffacher Lebensretter" .

Richters weiterer Lebensweg ist unbekannt. Seit 1945 gilt der Wegbereiter des Gleitfluges und des Lilienthal-Gedenkens als verschollen."